Unser Leipziger Trainer, Jörg Weidemann, hat vor wenigen Tagen eine Gürtelprüfung bestanden. Eine gute Gelegenheit über einige neue Erfahrungen zu sprechen.

 

KI: Du hast jetzt den grünen Gürtel im Wing Fight. Nach dem schwarzen Gürtel im TaeKwonDo und einem Ausbilder-Grad im Wing Chun nun etwas Neues. Warum tut man sich das an?

 

Jörg: Zunächst einmal sollte man immer neugierig und offen für Neues sein, auch für die eigene Veränderung. Das gilt nicht nur für den Sport, sondern für das ganze Leben. Was den Kampfsport angeht haben wir nach unserem Umzug aus dem Ruhrgebiet nach Leipzig ohnehin eine neue Schule gesucht, um uns selbst ausbilden zu lassen.
Der bekannte chinesische Kommunist Mao Zedong hat seinen Genossinnen und Genossen auf den Weg gegeben, zu jeder Zeit sowohl Lehrer als auch Schüler zu sein. Dieser Weg ist auch für Kampfsport International sehr gut, weil wir dadurch immer neuen Input bekommen.

 

 

 

Im Wing Fight erfolgt der Angriff häufig über die Flanke, statt durch die Mitte

 

Bekannt sind Wing Chun, Wing Tsun, Ving Tsun, Wing Tjun ... Was zur Hölle ist nun Wing Fight?

 

Wir haben uns nach dem langjährigen Wing Chun Training bei Deniz Haciabdurrahmanoglu natürlich zunächst einmal nach Wing Chun Vereinen in Leipzig umgesehen. Über das Internet sind wir dann auf die Kampfsportschule Leipzig gestoßen. Dort wird ein sehr breites Angebot unterrichtet. Neben Wing Fight auch Mixed Martial Arts (MMA), Brazilian Jiu Jitzu (BJJ), Muay Tai, Ringen, Boxen und Kickboxen. Diese breite Aufstellung hat mich neugierig gemacht. Zumal meine Frau ohnehin mehr Interesse am Kickboxen als am Wing Chun hat.

 

Außerdem war ich neugierig – und auch ein wenig skeptisch – was sich hinter Wing Fight Revolution verbirgt. Revolution ist ein großes Wort, das man nicht leichtfertig verwenden sollte. Und eine Revolution des Wing Chun zu versprechen, ist schon eine Hausnummer.

 

Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen in Sachen Revolution?

 

Zunächst war es nach zwei Jahren Corona-Pandemie wirklich ein begeisterndes Erlebnis wieder eine Kampfsportschule zu betreten. Schon der unverwechselbare Geruch von Schweiß und benutzten Boxhandschuhen in der Umkleidekabine – ich hätte nicht gedacht, dass man ihn so vermisst.


Hinzu kam eine sehr angenehme Atmosphäre, wo kompetentes, professionelles Training mit der nötigen Portion Spaß und Lockerheit zusammenkommen. Ich habe schon vor einigen Monaten vom Barfight-Seminar berichtet - um nur ein Beispiel zu nennen. Und die antifaschistische und internationale Atmosphäre passt sehr gut zum Gedanken von Kampfsport International.


Was das Wing Chun bzw. das Wing Fight angeht, möchte ich vorausschicken, dass wir bei Deniz im Fight Club Gelsenkirchen wirklich sehr gutes Wing Chun unterrichtet bekamen. Das Training war immer Open Minded, die Tür sozusagen offen. Es wurde auch Lutta Livre (dem BJJ ähnlich) unterrichtet, wir haben uns mit hohen Kicks beschäftigt und relativ früh auch Elemente aus dem MMA adaptiert. Und das obwohl Deniz ursprünglich sehr klassisches Wing Chun bei den Yip Man Schülern Wang Kiu, Lok Yiu und Wong Shun Leung gelernt hat.


Dort ist leider Engstirnigkeit und sportliche Inzest weit verbreitet. So glaubt die auf Lok Yiu zurückgehende europäische Dachorganisation ELYWCIMAA allen Ernstes »fest daran, dass der Stil des Wing Chun, den Großmeister Yip Man an Meister Lok Yiu weitergab, nicht perfektioniert werden kann. Das Bewegungssystem ist so perfekt, dass jede Veränderung dieses Selbstverteidigungssystems verwässern würde. ... Wer dieses Wing Chun lernen und erfahren will, muss … alle anderen Vorkenntnisse der Kampfkunst verwerfen …«

 

 In einer schlechten Wing Tsun Schule wurde ich beim Probetraining nach einem Kick-Treffer meinerseits zum Kopf des Trainingspartners belehrt, dass »wir hier keine hohen Kicks machen«. Eine bemerkenswerte Aussage für ein »perfektes System«. Gut, dass man sich bei der Selbstverteidigung auf der Straße auch immer vorher absprechen kann, welche Techniken erlaubt sind.

 

Es wäre absurd, sich nicht auch mit hohen Kicks zu befassen

 


Eine solche Art Überheblichkeit wurde bei Deniz nie gepflegt. Relativ schnell wurde im Zentrum für effektive Selbstverteidigung (wie der Fight Club Gelsenkirchen früher hieß) erkannt, dass Wing Chun auch teils gravierende Lücken aufweist. Zum Beispiel verfügt es im Bodenkampf nur über sehr eingeschränkte Skills (Werkzeuge/Fähigkeiten). Und: ich wäre doch verrückt, wenn ich alles was ich in jahrelangem TaeKwonDo-Training über hohe Kicks gelernt habe, jetzt ausdrücklich verwerfen würde.

 

Und was ist jetzt mit der Wing Fight Revolution?

 

Und damit wären wir „schon“ beim Wing Fight Revolution System. Es wurde von Victor Gutiérrez entwickelt. Victor hat jahrelang in dem traditionellen internationalen EWTO-Verband Wing Tsun gelernt und unterrichtet und viele Auszeichnungen erhalten. Anders als der traditionellen Wing Chun Familie lag ihm aber offensichtlich die tatsächliche Perfektionierung und Weiterentwicklung am Herzen und die Wege trennten sich.

 

Victor Gutiérrez (stehend) hat Wing Fight maßgeblich entwickelt


Wing Chun hat viele Vorteile. Man kann recht schnell lernen, sich recht effektiv zu verteidigen. Aber gegen ausgebildete Kämpferinnen und Kämpfer zieht man nicht selten den Kürzeren. Es kursiert eine Zahl im Internet, dass 80 – 90 Prozent aller Auseinandersetzungen auf der Straße auf dem Boden enden. Was liegt also näher, als sich damit intensiv zu befassen? Tatsächlich war das auch eine meiner ersten Erfahrungen in der Kampfsportschule Leipzig: Immer wenn ich in der im Wing Chun beliebten Infight-Position war, lag ich schnell (gut verknotet) auf dem Boden. Weil Wing Fight bewusst BJJ-Elemente in das System einbaut.

 

Viele Kämpfe enden auf dem Boden - ein echtes Plus wenn man sich damit befasst


Das gleiche gilt für harte Kicks auf alle Körperzonen. Hier ist man sich nicht zu schade, vom Muay Tai oder Kickboxen zu lernen. Einiges von dem was wir bei Deniz im Wing Chun schon verändert hatten, wie die starre Fixierung auf die Zentrallinie, finde ich im Wing Fight wieder. Aber ich muss schon sagen, dass dies hier systematischer und systemischer erfolgt. So ist es auch kein Zufall, dass die Königsdisziplin der Kampfkünste, das MMA, auch im Wing Fight eine große Rolle spielt. Königsdisziplin deshalb, weil MMA ja aus allen Kampfkünsten die effektivsten Techniken in allen Distanzen nutzt. Hinzu kommt das Wing Weapon Training, bei dem die Teilnehmenden lernen mit allen möglichen Waffen und Gegenständen umzugehen – auch das ist natürlich eine Bereicherung der Selbstverteidigung, die man im klassischen Wing Chun nicht bekommt.

 

Wing Weapon - der Umgang mit Waffen z.B. Stöcken oder Alltagsgegenständen


Ich möchte den Begriff »Revolution« aber nicht, wie heute in vielen Medien üblich, inflationär gebrauchen. Der Begriff beschreibt einen grundsätzlichen, antagonistischen Bruch mit den bestehenden (gesellschaftlichen) Verhältnissen. Und das scheint mir hier nicht der Fall. Im Fight Club Gelsenkirchen wird aktuell, wie ich gehört habe, gar kein Wing Chun mehr unterrichtet, sondern man konzentriert sich vor allem auf das boomende MMA.


Beim Wing Fight habe ich dagegen das Gefühl, dass die besten Elemente des klassischen Wing Chun gut aufgehoben sind. Aber es ist eben auch etwas Neues entstanden. Und so ist unsere Holzpuppe (Mok Jan Chong) derzeit das einzige was ich am Wing Chun manchmal vermisse. Aber vielleicht findet ja eines der beiden Exemplare aus Denizs Keller einmal den Weg nach Leipzig.

 

Viele Dank für deine Zeit

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